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Der richtige Weg (?)

Das Ziel habe ich bewusst ausgesucht und mich mit der Route dahin beschäftigt. Straßenpläne online studiert und schlussendlich das Navi programmiert. Genug Zeit ist eingeplant. Für eine kleine Pause zwischendurch und um so zeitig anzukommen, dass ich die Atmosphäre schnuppern kann, bevor es losgeht.

Im Radio läuft Lieblingsmusik laut Playlist. Es dämmert und in der Luft liegt ein Wetterumschwung. Ich fühle mich pudelwohl. Alles stimmt.

Auf der Straße ist nicht viel los. Genaugenommen bin ich weithin alleine unterwegs; folgt artig der fremden Navi-Stimme. Ist sie auch vertrauenswürdig? Immerhin gibt es genug Beispiele dafür, dass sie auch gehörig in die Irre führen kann. Auf sinnlose bis gefährliche Abwege.

Doch, es sind einzelne Menschen unterwegs. Hin und wieder begegnet mir ein anderes Auto – allesamt auf der Gegenfahrbahn. Eine Stimmung baut sich in mir auf. Als wäre ich Teil eines Katastrophenfilms. Jeder, der kann flüchtet, ich bin unwissend und steuere auf das Schreckliche zu.

Fragen tauchen auf. Bin ich wirklich auf dem richtigen Weg? Stimmen die Angaben fürs Navi? Ist die Route korrekt berechnet? Wann sah ich das letzte Straßenschild? Was wenn? Liegen alle anderen richtig? Hab ich etwas verpasst? Stimmt überhaupt die Zeit? Will ich da wirklich hin?

Die Musik habe ich längst ausgeschaltet. Meine Hirngespinste kämpfen mit dem Verstand. Wäre ich auf bekannter Strecke unterwegs, nichts von alledem würde mich beschäftigen. Ich wüsste um mein Ziel und dass ich genau auf dem Weg bin, auf dem ich sein will; sein soll.

Zu allem Überfluss fahre ich mittlerweile auf einer kurvigen schmalen Straße durch ein Wäldchen. Das macht die Sache nicht besser. Rascher und rascher laufen die Fragen und Unsicherheiten wie ein Computerprogramm in meinem Inneren ab. Ein kämpferischer letzter Rest geht dagegen an. Ruft sich die achtsame Vorbereitung dieser Reise und den Grund dafür in Erinnerung.

Noch eine Kurve – da überrascht mich eine hell erleuchtete Kreuzung und plötzlich gibt es zahlreiche Autos in (fast) jede Richtung. Der Zauber (oder eher: der Bann) ist gebrochen. Ich atme durch und leise stelle ich die Musik wieder an. Doch, doch. Ich bin noch auf meinem Weg.

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Du lebst zum ersten Mal

Ja, ja, man mag an Wiedergeburt, Seelenwanderung oder ähnliches glauben bzw. davon wissen, dennoch sehe ich:

Hier, heute und jetzt gibt es mich in einer einzigartigen Konstellation. So gesehen stimmt es, ich lebe zum ersten Mal.

Darauf bezieht sich ein Kalendergedanke, der mich diese Tage begleitet und der mich derart wohltuend und erleichternd berührt, dass ich ihn an dieser Stelle sinngemäß wiedergeben mag:

Du lebst zum ersten Mal. Ist das nicht Grund genug dir die eigenen Fehler und Schwächen zu verzeihen?

 

 

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Das Leben ist nicht fair

Diesen Satz hört man hin und wieder, manchen ist er auch selbst schon durch den Kopf gegeistert.

Wenn ausgerechnet vor mir der älteste und langsamste Traktor aller Zeiten plus Heuanhänger in die Straße einfährt, wenn ich den Job verliere, mein USB-Stick mit einer zweihundert Seiten langen Dissertation unter einen Spielzeughammer gerät, wenn meine Tasche gestohlen wird, wenn eine Diagnose die Welt auf den Kopf stellt, wenn irgendwie immer mein Essen von der Bestellliste verschwindet.

Das ist nicht fair. Das ist nicht fair!

Wie ein Hilferuf kann es klingen, wie eine Anklage, wie ein paar Worte, wo sonst keine gefunden werden.

Meist aber heißt es (frei übersetzt): „Das soll nicht mir passieren!“

Oder nicht? Denkt nach. Forscht in euch.

 

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Der Mensch denkt und Gott lenkt

Da komme ich nur unregelmäßig auf dem Blogspielplatz vorbei und fange dann ausgerechnet mit Gott an?
Man wird es mir verzeihen. Das eine wie das andere.

Nicht nur ich kenne das. Wenn Unglaubliches, Schreckliches, Erschreckendes, Trauriges passiert, so ist es mitunter die (letzte) Konsequenz (die Rangordnung hängt ein bisschen von der persönlichen Glaubenskonstitution ab), dass man es als gottgegeben, Gottes Willen, göttlichen Weg und ähnliches beschreibt. Eine legitime Variante, um damit umgehen zu können. Beispiel fürs leichtere Mitdenken? Ein Kind, das nur acht Jahre alt wird.
Im Grunde wissen wir ja alle, dass dieses Leben ein temporäres Vergnügen ist, aber in der praktischen Umsetzung bzw. im direkten Erleben ist das nicht immer ganz so locker aus der Hüfte zu schütteln. Da braucht es Beistand. Göttlichen mitunter.

Glaubende sehen es also – darauf will ich hinaus – als möglich, dass ein Leben mit acht Jahren beendet und trotzdem vollkommen ist. Vollkommen, obwohl wir uns 90 leidensfreie Jahre mit Tod im Schlaf ausdenken. Nicht unsere Wünsche und Vorstellungen sind die letzte Instanz. Eine Kraft, die man Gott, Buddah usw. nennt, weiß es besser und wir nehmen das Los an – wie man so schön sagt.

Kleiner Themenwechsel mit einer Frage zur Haltung bei nicht ganz so drastischem Auseinanderdriften von Vorstellung und Realität:

Wenn diese eine göttliche Kraft beim Bemessen der Lebensspanne schon mehr weiß, warum besteht man so verbohrt darauf, dass eine Ehe anderen Spielregeln unterliegt?

 

 

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Zitronen voller Bilder

Es denkt ja zuweilen einiges in mir drin und ich folge dem mehr oder minder bewusst. So könnte ich eine längere Geschichte dazu erzählen, warum es hin und wieder um Zitronen gehen soll; oder einfach loslegen.

Ein geflügeltes Wort: Wenn das Leben dir Zitronen reicht, dann mache Limonade daraus.

Ja, bestens. Für mich gehört das gefühlt in ein Kaff im Süden der USofA. Selbst habe ich noch nie ausprobiert, wie (und ob) das geht. Fangen wir mit einem Rezept an.

Es braucht unbehandelte Zitronen und 25x mehr Zucker. Das ist schon alles. Beispiel gefällig? 4 Zitronen und 100g Zucker. 5 Zitronen und 125g Zucker.
Früchte waschen, Schale abreiben, diese mit dem ausgepressten Saft und dem Zucker eine Handvoll Minuten lang kochen lassen (= 5 min) und in eine sterilisierte Flasche abfüllen.

Okay, das ist keine Limonade, sondern der Sirup dafür. Vorteil: Ob Sprudelwasser oder stilles kann ganz individuell entschieden werden.

Wichtig zu erwähnen: Gibt das Leben dir Zitronen, bitte um 25x mehr Zucker dazu.

Was mir jetzt noch fehlt (und damit komplettiere ich mein Zitronenlimonadenbild): Rüschenschürze und Trinken auf der Veranda.

 

 

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Ohne ist alles nichts

Wenn mir das Wasser nicht nur bis zum Hals steht, sondern ich schon darin treibe.

Wenn ich einsam durch eine überfüllte Stadt gehe.

Wenn alle die Gegenrichtung ansteuern.

Mit Inbrunst – und ich wünschte, alle würden es glauben:

I am (and: we are) nothing without love!

Nate Ruess: „Nothing Without Love“

 

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Null Poesie

Ich dekantiere Wein nicht, ich schenke ein.
In der Küche zaubere ich nicht, sondern koche – schnell und effizient.
Anstatt mich zu kleiden, ziehe ich etwas über.
Ich bin nicht charmant, dafür nicht ganz ernst zu nehmen.
Die Bücher sind nicht geordnet, sondern weggestellt.
Lebensmittel in den Schränken befinden sich meist in der angebrochenen Verpackung.
Meine Finger fliegen nicht über die Tastatur – ich tippe.
Die Wohnung wird nicht aufgehübscht, sondern geputzt (in kleinen Einheiten).
Vor dem Genuss steht das Essen.
Ich verliere mich selten in etwas, Kunst verstehe ich kaum.
Was ich an Gedichten kenne, stammt noch aus der Schule.
Ich trage nicht vor, spreche stattdessen.

Manchmal blicke ich mich derart (und diese Aufzählung ist nur sporadisch und rasch erstellt worden; ist demnach unvollständig) in meinem Leben um und entdecke null Poesie in meinem Dasein.
Es ist nur… Ich glaube mir das selbst nicht.
Darum werde ich meinen Blick bewusst ändern und mich auf die Suche nach den kleinen Mehrs machen, die da versteckt sind.
Mal sehen, was auftaucht.
Das Leben ist ein Paradox!

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Ein Königreich für Alltag

Henni rückte nahe an Tara heran, was sie mit einem unwillkürlichen Murren quittierte. Der Schlaf hatte sie noch nicht völlig losgelassen, seine körperliche Präsenz mischte sich mit Traumbildern.

„Tara“, hauchte er in ihr Ohr. „Schatz, du musst aufstehen.“

„M-hm“, bestätigte sie.

Er verschwand. Vermutlich im Badezimmer und Tara wappnete sich für den Tag.

„Tara“, war Henni auch schon wieder da. Sie öffnete die Augen nicht, er schien aber vor dem Bett zu stehen und streichelte ihre Wange. „Aufstehen, Schlafmütze“, sang er sanft. „Ich muss ins Büro.“

Ja, das wusste sie. Nach der Auszeit gestern, gab es für ihn nun einiges aufzuholen und eine Sitzung stand an.

„Ich komme gleich“, seufzte Tara und drehte sich auf den Rücken, den Arm über die Augen gelegt.

Nur zwei Minuten noch benötigte sie, um diese Müdigkeit abzuschütteln, die Schwere, die ihre Glieder in der horizontalen Ebene gefesselt hielt. Die Decke lag warm ausgebreitet auf ihr und mit ein wenig Phantasie konnte sie sich vorstellen, dass Henni sie noch immer im Arm hielt. Vollkommene Geborgenheit.

„Tara?“

Wieder war Henni da, um sie zu erinnern, dass Pflichten auf sie warteten.

„Nur einen Moment noch“, erklärte sie. „Ich komme gleich. Ich muss nur noch…“

War er überhaupt noch da? Vermutlich interessierten ihn ihre Gründe sowieso nicht und so ließ sie das Ende des Satzes unausgesprochen.

„Scheiße!“, schimpfte Henni irgendwo im Raum.

Sie wollte ihm gut zureden, sagen, sie käme gleich, doch dann war ihr die Wiederholung des Immerselben zu dumm und sie schwieg einfach. Mit einem tiefen Atemzug genoss sie ihr warmes Nest noch für ein paar Sekunden.

Schlagartig öffnete Tara die Augen. Egal wo sie sich träumender Weise gerade aufgehalten hatte, nun war sie von einer Sekunde auf die andere ganz hier angekommen. Genüsslich streckte sie sich, rieb die Augen und schlug die Decke zur Seite.

Tara gähnte, als sie aus dem Schlafzimmer trat und im nächsten Moment blickte sie sich irritiert um. Im Zimmer war es dunkel, die Rollläden noch geschlossen. Im Flur allerdings überraschte sie Tageslicht. Im Winter war es um diese Zeit nicht hell. Nein, das war unmöglich. Einige Male blickte sie abwechselnd hinter sich und dann nach vorne. Träumte sie noch? Ein Adrenalinschub brachte sie wieder in Bewegung. Mit raschen Schritten ging sie zum Fenster des Schlafzimmers und öffnete die Verdunkelung.

„Oh, Gott!“, stieß Tara aus und rannte nach draußen.

Sie hatte offenbar verschlafen. Gehörig verschlafen. Die Buben sollten eigentlich schon längst in Schule oder Kindergarten sein. Henni war seit Stunden aus dem Haus und die Kleinen alleine auf sich gestellt.

Doch das Kinderzimmer war leer und weder in Wohnzimmer noch Küche fand sie die Buben. Ihr wurde zum Weinen zumute. Was war hier los? Warum war sie alleine zu Hause? Drehte sie nun durch? Verlor sie den Bezug zur Wirklichkeit? Hatte sie etwas vergessen?

Vier Worte, von Henni groß auf die Rückseite eines Flugblattes geschrieben und mitten auf dem Küchentisch platziert, waren erste Anhaltspunkte, die Tara kaum beruhigen konnten. Bitte ruf mich an, stand da geschrieben.

Nun bemerkte sie auch das schmutzige Geschirr, das sich auf der Anrichte stapelte. Es hatte also Frühstück für alle gegeben.

Natürlich versuchte sie als erstes ihren Mann zu erreichen, doch er hob nicht ab.

Angst machte sich in ihr breit. Angst davor, was die Krankheit aus ihr machen konnte. Was, wenn das nur der Auftakt war?

Vier Minuten lang hatte sie Zeit, sich in diesen Emotionen zu verlieren, bevor Henni zurückrief.

„Oh Henni, es tut mir leid“, sagte sie sofort.

„Geht es dir gut?“, erkundigte sich Henni mit verhaltener Stimme.

„Ich habe verschlafen. Es tut mir leid. Ich… ich weiß auch nicht. Ich habe nicht bemerkt, wie viel Zeit vergeht.“

„Hey, mein Schatz, beruhige dich. Sag mir einfach, wie es dir geht.“

„Ich bin durcheinander“, gestand sie.

„Aber sonst? Ich habe noch ein Meeting, aber… Soll ich nach Hause kommen? Ich war mir nicht sicher…“

„Nein.“ Tara begann zu frösteln, das Adrenalin baute sich ab. „Ich komme klar. Ich bin… Mir ist… Wo sind die Jungs?“

Es entstand eine kurze Pause.

„Wir haben einfach erzählt, dass wir heute alle verschlafen haben. Ich habe die größeren zwei bei Joel abgesetzt und Benni habe ich Liliane aufs Auge gedrückt. Mach dir keine Sorgen. Bis um vier sind alle versorgt. Mathias und Jonas bei Joel und der Kleine bei Mathilde. Denkst du, das geht? Bis um vier Uhr? Ich kann auch fragen, ob sie…“

„Das ist nicht nötig“, unterbrach Tara rasch. „Vier Uhr ist gar nicht nötig. Ich kann sie abholen.“

„Magst du dir nicht diesen Tag gönnen? Wenn du so müde bist… ich meine, nach dem Schifahren gestern ist es vielleicht ganz gut, wenn du dir einen Tag zum Ausspannen nimmst. Alle sind versorgt und ich sehe zu, dass ich am Abend zum Essen komme. Ich könnte das Kochen übernehmen.“

„Henni, mir geht es gut. Ich musste nur ausschlafen. Ehrlich. Ich werde die Kinder abholen und du musst dir keine Gedanken mehr machen.“

Im Hintergrund hörte Tara ein eigenartiges Geräusch.

„Bist du etwa auf der Toilette?“, fragte sie erstaunt.

„Ich sollte eigentlich in einem Meeting sitzen“, erklärte er rasch.

„Na, dann geh zurück. Ich erledige alles.“

„Tara?“

„Ja?“

„Wie lange bist du schon wach?“

„Fünf, zehn Minuten?“, riet sie. Sein veränderter Tonfall behagte ihr gar nicht.

Zwei Sekunden verstrichen, dann öffnete er ihr die Augen für eine Tatsache, die alle Ängste des ungewöhnlichen Morgens erneut entfachte.

„Tara, der Kindergarten war vor einer halben Stunde fertig. Mathias wurde schon abgeholt.“

Das bedeutete, fügte ihr über Monate darauf ausgerichteter Verstand hinzu, dass Benjamin seit Ende der Spielgruppe schon eine ganze Stunde bei der Nachbarin war und Jonas in Kürze aus der Schule treten würde.

„Was?“

Tara suchte nach einer Uhr und hörte kein Wort von dem, was Henni zu ihr sagte.

„Ich hab doch nur verschlafen!“, rief sie dem Backofen zu, der behauptete, es sei bereits Mittag.

Das war unmöglich.

Henni opferte weitere Minuten seiner zu knapp bemessenen Zeit, um ihr gut zuzureden und er wartete, bis sie soweit zuhören konnte, um auch ruhiger zu werden. Am Ende sah sie ein, dass sein Vorschlag der einzige war, der diesem Desaster noch einen Rest an Sinn geben konnte.

Er hatte für alles gesorgt, die Buben waren betreut und am Abend würden sie sich Zeit für ein ausführliches Gespräch nehmen. Bis dahin durfte sie entspannen, einfach abschalten.

Tara fasste einen Entschluss. Wenn ihr Sterben von einem solchen Durcheinander wie heute begleitet werden würde, dann durfte sie das nicht hinnehmen. Nein, entschied sie, sie würde kämpfen. Um das morgendliche Aufstehen, um Alltag, um ihren Verstand.

 

 

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Quer durch Raum und Zeit

Tara wollte sich wehren. Ein Schitag mitten unter der Woche, das war absurd. Aus einer spontanen Idee geboren, entschuldigte Henni sowohl die Kinder als auch sich selbst und belud das Auto. Dies war ein so untrügliches Zeichen für ihre zerrinnende Zeit, dass Tara am liebsten eine Demonstration gegen ihre Familie angezettelt hätte. Nur mit Wasserwerfern und Helmen sollte man sie davon abhalten können. Sie wollte diese Ausnahmen nicht. Nein!

Im selben Augenblick sehnte sie sich nach diesem Tag. Mehr als angemessen schien es ihr, dass ihre vier Männer wegen ihr den gesellschaftlichen Konventionen den Rücken kehrten. Niemand würde sich dafür bedanken, wenn sie diese Chance ungenutzt verstreichen ließen. Sie hatten es alle verdient und für ein paar gemütliche Stunden am Übungshügel reichte auch ihre Energie bestimmt aus.

Schlussendlich verabschiedete sie sich von ihren rebellischen Gedanken.

Unermüdlich trippelte Benjamin zum Förderband und übte, damit er schon bald mit seinen Brüdern auf die steilere Piste nebenan wechseln konnte. Ebenso unerlässlich half ihm Tara beim Aussteigen oder wenn sich Schier und Beine allzu sehr verknoteten.

Die Mittagspause kam ihr allerdings gerade recht, damit sie sich von der ständigen Bewegung erholen konnte. Ihr Seniorenhandy passte mittlerweile ganz gut zu ihrem Aktionsbedürfnis.

Es war sonnig und überraschend warm. Als sie zu fünft auf der Terrasse des Gasthauses saßen, zogen sie alle ihre Winterjacken aus und füllten Millionen von Zellen mit hellen Strahlen auf.

Tara beobachtete, wie Henni mit einem Tablett durch die Bankreihen balancierte. Fünf Mal heiße Schokolade stand darauf. Dazu zwei Mal Würstchen, einmal Spaghetti und zwei Portionen Pommes.

Nach einem halben Tag an der frischen Luft wirkte er jünger und vitaler als in den letzten Wochen. Spontan erschien vor ihrem inneren Auge ein Bild aus früheren Zeiten. Eine gemeinsame Radtour und es ging über eine längere Strecke steil aufwärts. Tara konnte nicht mit Henni mithalten, er fuhr seinen Rhythmus und sie ihren, denn beide wussten, die Stelle kam, da fanden sie wieder zueinander. Schnaufend und schwitzend näherte sich Tara diesem Punkt, ein um das andere Mal blickte sie auf und sah ihn. Wie er mit roten Wangen und schon wieder ruhigem Puls dastand und auf sie wartete. Sein Lächeln wirkte dabei, als würde er sie sehnsüchtig erwarten, als wäre es keine Selbstverständlichkeit, dass sie zu diesem Treffpunkt kam.

Wie hatte sie diese Augenblicke geliebt!

Und genau mit diesem frischen Rot auf den Wangen kam nun Henni auf sie zu. Mit konzentrierter Miene zwar, dennoch konnte sie ihren Freund von früher deutlich erkennen. Er stellte das Tablett ab, die Buben beugten sich alle zeitgleich darüber und er ließ sie gewähren, weil er sich stattdessen an Tara wandte. Dazu richtete er sich auf und strahlte sie genau mit diesem unvergleichlichen Lächeln an. Asymmetrisch, weil sich das linke Auge ein wenig mehr schloss. Ein Lächeln, das er nun ganz alleine an sie verschenkte. Warum sie ihn derart anstarrte, sprachlos und höchst erfreut, konnte er kaum wissen, doch er war nicht verlegen, stellte auch keine Frage dazu. Ein Augenzwinkern seinerseits löste den Moment auf. Er hatte im Gegensatz zu Tara bemerkt, dass die Essensausgabe auf dem Tisch zu einem kleinen Disput geführt hatte und erwachsene Unterstützung nötig war, wollte man Pommes und Nudeln nicht demnächst vom Boden aufputzen.

Das Essen begann umständlich, weil sich angesichts der Speisen die Wünsche der Kinder noch einmal änderten und schnell Kompromisse gefunden werden mussten. Sobald die ersten Bissen in den Mündern verschwanden, wurde es aber ruhig und Henni knüpfte mit seinem Lächeln ganz einfach dort an, wo sie zuvor unterbrochen worden waren. Dieses Mal griff er über den Tisch hinweg Taras Hand, lehnte sich zu ihr und gab ihr mit einem „Schön, dass du da bist“ einen Kuss.

Das war es gewesen! Er wusste es! In ihm lebte offenbar genau in diesem Augenblick dieselbe Erinnerung, denn mit diesen Worten hatte er sie stets begrüßt, sobald sie ihr Fahrrad abgestellt hatte.

„Ich liebe dich“, antwortete Tara.

Henni streichelte ihre Wange und gab ihr noch einen Kuss.

„Ich liebe dich auch.“

„Mama, jetzt musst du das mit den Äpfeln sagen“, platzte Benjamin dazwischen.

In wenigen Minuten hatte er es geschafft, Ketchup über sein ganzes Gesicht und beide Hände zu verteilen. Er grinste Tara freudig an, während sie gar nichts verstand. Eben war sie noch zwanzig Jahre alt gewesen und hatte sich auf einer Fahrradtour mit ihrem Freund befunden.

„Was?“

„Das mit den Äpfeln“, wiederholte Mathias, der anscheinend genau wusste, was sein kleiner Bruder angesprochen hatte.

„Welche Äpfel?“

„Wegen den Pommes und der Schokolade“, erklärte schließlich auch noch Jonas. „Du musst sagen, dass wir danach etwas Gesundes essen müssen und die Äpfel aus dem Rucksack holen.“

Tara empfand es als ihre Mutterpflicht, dass sie bei jedem Schitag, der eine Ausnahmesituation in Punkto ausgewogene Ernährung darstellen durfte, auf ein wenig Obst zum Nachtisch bestand. Es war immer ein Hin und Her zwischen „Ich mag nicht“, „Ich bin satt“ und „Nur ein paar Bissen“ gewesen. Dieses Mal hätte sie tatsächlich darauf vergessen, es großzügig unter den Tisch fallen lassen. Wie wichtig war das aus ihrer heutigen Perspektive aus betrachtet? Die Buben hingegen liebten die Apfel-Diskussion, für sie war es, und das erkannte Tara in diesem Moment, ein wichtiges Ritual. Etwas, das die Mama immer machte, wenn es Pommes zum Essen mit Trinkschokolade gab.

Henni schmunzelte und Tara hätte ihm am liebsten gesagt, dass er sich das merken müsse. Auch später, im nächsten Jahr, wenn sie nicht mehr dabei sein konnte, dann musste er an die kleine grüne Plastikdose mit den Apfelstücken denken. Die war wichtig.

Statt es vor den Kindern auszusprechen, beugte sie sich über den Rucksack und genoss die freudvollen Kindergesichter, als sie wie ein Versprechen das bedeutungsvolle Utensil des bekannten Spiels auf dem Tisch platzierte.

Wenn ein Lächeln acht Jahre unbeschadet überdauern und unerwartet wiederbelebt werden konnte, dann musste es eine Plastikdose erst recht schaffen. Sie musste, bitte, bitte, betete Tara innerlich. Das wäre dann sie, die in grüner Form im Leben ihrer Söhne Platz bekam.

 

 

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Medaillendreher

„Alle reden nur vom Tod. Aber über den Tod gibt es nicht viel zu reden, den hat man. Man hat ihn vor sich, oder man hat ihn hinter sich. Tod ist immer und überall. Das Leben ist einmalig.“

 

„Alle reden nur vom Leben. Aber über das Leben gibt es nicht viel zu reden, das hat man. Man hat es vor sich, oder man hat es hinter sich. Leben ist immer und überall. Der Tod ist einmalig.“

Zwei Seiten einer Medaille.

Eine stammt von dem Autor Michael Köhlmeier („Die Abenteuer des Joel Spazierer“ – Dr. Williams philosophiert an jener Stelle).

Die andere von mir.

Warum ich beide hier einstelle? Weil mir die gelesene Version so verkehrt vorkam – ich wollte meine verschriftlichen.

Die Lösung dessen, was dieser Dr. Williams und was ich meine, findet sich in besagtem Buch auf Seite 521.

 

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