Henni rückte nahe an Tara heran, was sie mit einem unwillkürlichen Murren quittierte. Der Schlaf hatte sie noch nicht völlig losgelassen, seine körperliche Präsenz mischte sich mit Traumbildern.
„Tara“, hauchte er in ihr Ohr. „Schatz, du musst aufstehen.“
„M-hm“, bestätigte sie.
Er verschwand. Vermutlich im Badezimmer und Tara wappnete sich für den Tag.
„Tara“, war Henni auch schon wieder da. Sie öffnete die Augen nicht, er schien aber vor dem Bett zu stehen und streichelte ihre Wange. „Aufstehen, Schlafmütze“, sang er sanft. „Ich muss ins Büro.“
Ja, das wusste sie. Nach der Auszeit gestern, gab es für ihn nun einiges aufzuholen und eine Sitzung stand an.
„Ich komme gleich“, seufzte Tara und drehte sich auf den Rücken, den Arm über die Augen gelegt.
Nur zwei Minuten noch benötigte sie, um diese Müdigkeit abzuschütteln, die Schwere, die ihre Glieder in der horizontalen Ebene gefesselt hielt. Die Decke lag warm ausgebreitet auf ihr und mit ein wenig Phantasie konnte sie sich vorstellen, dass Henni sie noch immer im Arm hielt. Vollkommene Geborgenheit.
„Tara?“
Wieder war Henni da, um sie zu erinnern, dass Pflichten auf sie warteten.
„Nur einen Moment noch“, erklärte sie. „Ich komme gleich. Ich muss nur noch…“
War er überhaupt noch da? Vermutlich interessierten ihn ihre Gründe sowieso nicht und so ließ sie das Ende des Satzes unausgesprochen.
„Scheiße!“, schimpfte Henni irgendwo im Raum.
Sie wollte ihm gut zureden, sagen, sie käme gleich, doch dann war ihr die Wiederholung des Immerselben zu dumm und sie schwieg einfach. Mit einem tiefen Atemzug genoss sie ihr warmes Nest noch für ein paar Sekunden.
Schlagartig öffnete Tara die Augen. Egal wo sie sich träumender Weise gerade aufgehalten hatte, nun war sie von einer Sekunde auf die andere ganz hier angekommen. Genüsslich streckte sie sich, rieb die Augen und schlug die Decke zur Seite.
Tara gähnte, als sie aus dem Schlafzimmer trat und im nächsten Moment blickte sie sich irritiert um. Im Zimmer war es dunkel, die Rollläden noch geschlossen. Im Flur allerdings überraschte sie Tageslicht. Im Winter war es um diese Zeit nicht hell. Nein, das war unmöglich. Einige Male blickte sie abwechselnd hinter sich und dann nach vorne. Träumte sie noch? Ein Adrenalinschub brachte sie wieder in Bewegung. Mit raschen Schritten ging sie zum Fenster des Schlafzimmers und öffnete die Verdunkelung.
„Oh, Gott!“, stieß Tara aus und rannte nach draußen.
Sie hatte offenbar verschlafen. Gehörig verschlafen. Die Buben sollten eigentlich schon längst in Schule oder Kindergarten sein. Henni war seit Stunden aus dem Haus und die Kleinen alleine auf sich gestellt.
Doch das Kinderzimmer war leer und weder in Wohnzimmer noch Küche fand sie die Buben. Ihr wurde zum Weinen zumute. Was war hier los? Warum war sie alleine zu Hause? Drehte sie nun durch? Verlor sie den Bezug zur Wirklichkeit? Hatte sie etwas vergessen?
Vier Worte, von Henni groß auf die Rückseite eines Flugblattes geschrieben und mitten auf dem Küchentisch platziert, waren erste Anhaltspunkte, die Tara kaum beruhigen konnten. Bitte ruf mich an, stand da geschrieben.
Nun bemerkte sie auch das schmutzige Geschirr, das sich auf der Anrichte stapelte. Es hatte also Frühstück für alle gegeben.
Natürlich versuchte sie als erstes ihren Mann zu erreichen, doch er hob nicht ab.
Angst machte sich in ihr breit. Angst davor, was die Krankheit aus ihr machen konnte. Was, wenn das nur der Auftakt war?
Vier Minuten lang hatte sie Zeit, sich in diesen Emotionen zu verlieren, bevor Henni zurückrief.
„Oh Henni, es tut mir leid“, sagte sie sofort.
„Geht es dir gut?“, erkundigte sich Henni mit verhaltener Stimme.
„Ich habe verschlafen. Es tut mir leid. Ich… ich weiß auch nicht. Ich habe nicht bemerkt, wie viel Zeit vergeht.“
„Hey, mein Schatz, beruhige dich. Sag mir einfach, wie es dir geht.“
„Ich bin durcheinander“, gestand sie.
„Aber sonst? Ich habe noch ein Meeting, aber… Soll ich nach Hause kommen? Ich war mir nicht sicher…“
„Nein.“ Tara begann zu frösteln, das Adrenalin baute sich ab. „Ich komme klar. Ich bin… Mir ist… Wo sind die Jungs?“
Es entstand eine kurze Pause.
„Wir haben einfach erzählt, dass wir heute alle verschlafen haben. Ich habe die größeren zwei bei Joel abgesetzt und Benni habe ich Liliane aufs Auge gedrückt. Mach dir keine Sorgen. Bis um vier sind alle versorgt. Mathias und Jonas bei Joel und der Kleine bei Mathilde. Denkst du, das geht? Bis um vier Uhr? Ich kann auch fragen, ob sie…“
„Das ist nicht nötig“, unterbrach Tara rasch. „Vier Uhr ist gar nicht nötig. Ich kann sie abholen.“
„Magst du dir nicht diesen Tag gönnen? Wenn du so müde bist… ich meine, nach dem Schifahren gestern ist es vielleicht ganz gut, wenn du dir einen Tag zum Ausspannen nimmst. Alle sind versorgt und ich sehe zu, dass ich am Abend zum Essen komme. Ich könnte das Kochen übernehmen.“
„Henni, mir geht es gut. Ich musste nur ausschlafen. Ehrlich. Ich werde die Kinder abholen und du musst dir keine Gedanken mehr machen.“
Im Hintergrund hörte Tara ein eigenartiges Geräusch.
„Bist du etwa auf der Toilette?“, fragte sie erstaunt.
„Ich sollte eigentlich in einem Meeting sitzen“, erklärte er rasch.
„Na, dann geh zurück. Ich erledige alles.“
„Tara?“
„Ja?“
„Wie lange bist du schon wach?“
„Fünf, zehn Minuten?“, riet sie. Sein veränderter Tonfall behagte ihr gar nicht.
Zwei Sekunden verstrichen, dann öffnete er ihr die Augen für eine Tatsache, die alle Ängste des ungewöhnlichen Morgens erneut entfachte.
„Tara, der Kindergarten war vor einer halben Stunde fertig. Mathias wurde schon abgeholt.“
Das bedeutete, fügte ihr über Monate darauf ausgerichteter Verstand hinzu, dass Benjamin seit Ende der Spielgruppe schon eine ganze Stunde bei der Nachbarin war und Jonas in Kürze aus der Schule treten würde.
„Was?“
Tara suchte nach einer Uhr und hörte kein Wort von dem, was Henni zu ihr sagte.
„Ich hab doch nur verschlafen!“, rief sie dem Backofen zu, der behauptete, es sei bereits Mittag.
Das war unmöglich.
Henni opferte weitere Minuten seiner zu knapp bemessenen Zeit, um ihr gut zuzureden und er wartete, bis sie soweit zuhören konnte, um auch ruhiger zu werden. Am Ende sah sie ein, dass sein Vorschlag der einzige war, der diesem Desaster noch einen Rest an Sinn geben konnte.
Er hatte für alles gesorgt, die Buben waren betreut und am Abend würden sie sich Zeit für ein ausführliches Gespräch nehmen. Bis dahin durfte sie entspannen, einfach abschalten.
Tara fasste einen Entschluss. Wenn ihr Sterben von einem solchen Durcheinander wie heute begleitet werden würde, dann durfte sie das nicht hinnehmen. Nein, entschied sie, sie würde kämpfen. Um das morgendliche Aufstehen, um Alltag, um ihren Verstand.